Galerie 8 - Am Rande

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Am Rande notiert

 

 

 

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Sie werden sich sicher wundern, daß ich beim folgenden, dem sechsten Tag kein Bild vom Papst während der Audienz zeige. Das hat mit Günter zu tun. Günter saß mir Anfang der sechziger Jahre in der Planungsbaracke des Fernmeldeamtes Bonn gegenüber. Wir sprachen nicht nur über Gruppenwähler, Kabelbäume und Termine, nein wir unterhielten uns auch über Gott und die Welt, also Themen der aktuellen Politik, die wir durch den Bonner General Anzeiger vermittelt bekamen. Eines Tages wurden wir vom Dienst freigestellt, denn großer Besuch hatte sich auf dem Bonner Marktplatz angemeldet:  Konrad Adenauer und Charles de Gaulle sollten kommen und der neuen deutsch-französischen Freundschaft Ausdruck verleihen und so nebenbei auch für das neue Europa, das gerade im Entstehen war, werben. Adenauer beendete seine kurze Rede mit "Es lebe Deutschland! Es lebe Frankreich! Es lebe die deutsch-französische Freundschaft! Es lebe Europa!". Na gut, wir waren ja einverstanden. Dafür hätte es nicht des Bonner Marktplatzes bedurft. Dann sprach der große Franzose mit noch größerer Gestik und er sprach deutsch! Zum Schluß hob er beide Arme in den Bonner Himmel und rief emphatisch " . . . Vive l`Allemagne! Vive la France! Vive l`Europe!". Wir rissen die Arme hoch und jubelten! Da geschah es: Nur für den Bruchteil einer Sekunde streiften unsere Augen die des Kollegen, die Arme wurden bleischwer, sie erstarrten wie in flüssigen Stickstoff getaucht und sanken langsam herab. Hatten wir es uns nicht vorgenommen, rationaler als unsere Eltern zu handeln? Wollten wir uns nicht der Suggestion des Augenblicks verweigern und kühl und selbstbestimmt handeln? Wir hatten Glück! Europa ist entstanden! Doch seitdem halte ich mich ewas abseits des lauten Geschehens, ich bin meiner unsicher geworden.

 

Statt zum "Papa", wie Helga sagt, zu gehen, schultere ich meinen 7 Kilogramm schweren Fotorucksack und durchstreife den malerischen Ort Castel Gandolfo, der in der Historie als Alba Longa Rom unterlag. So entstehen die obigen Fotos und viele mehr!

 

Weit streift der Blick von der Balustrade über den herrlich in strahlender Sonne ruhenden Albaner See. Ich hebe meine Nikon, und da bemerke ich Sie! Ein hübsches junges Ding, das sich etwas verlegen aufrichtet, um dem aufdringlichen Fotografen keinen Blick auf ihren jungfräulichen Busen zu gewähren. Sie wird von ihrer Freundin fotografiert, keck von einem kleinen Hütchen beschattet. "Please stay, it's funny!" versuche ich sie zum Bleiben zu animieren. "It's not funny!". Sie frotzeln einander und ich meine polnische Laute zu hören. Nachdem sie ihrer Freundin die Zunge herausgestreckt hat, wird sie mutiger und versucht zögerlich eine Körperhaltung zu finden, die ihrem Empfinden für Schicklichkeit entspricht. Ein wunderschönes Bild, voller Anmut und Grazie ist das Ergebnis und ich bedanke mich artig. "Wo kommen Sie her?" werde ich von der Fotografin mit dem feschen Hütchen in tadellosem Deutsch mit leichtem polnischen Akzent gefragt. "Aus Köln". Das sage ich immer, da Bergisch Gladbach im Ausland zu nennen etwas verwegen wäre. "Und Sie?". "Aus Köslin". Mein Hals schnürt sich zu. Aus meiner Heimat! Da sind sie plötzlich wieder die Bilder aus meiner Jugendzeit: Ich spiele vor der Marienburg auf einem erbeuteten russischen Panzer, ich sehe meinen Sandkasten auf unserem Schulhof direkt neben dem Eingang zur Dorfschule in Altmark, Kreis Stuhm/Westpreußen, wie es in meinem Paß immer noch als Geburtsort vermerkt ist, ich kann mich immer noch an die Strafe erinnern, die ich erhielt, als ich versuchte, die rostige Zange gegen die Schulwand zu schleudern und diese mir selber unerklärlich durch die Scheibe in die Klasse flog, direkt meinem Vater vor die Füße.  "Ich war auch schon in Danzig" quetsche ich heraus, versuche zu lächeln, hebe die Hand ein wenig wie zum Abschied, drehe mich abrupt um und gehe. Und es tut mir leid! Helga, der ich davon erzähle, tröstet mich.

 

Herrlich junges, fröhliches, unbefangenes polnisches Mädel verzeih mir altem Zausel diese Flucht vor mir selbst. Hatte ich nicht damals auf dem Bonner Marktplatz für eine bessere Welt, ein besseres Europa demonstriert? Und jetzt passiert mir das! Sei uns willkommen in Europa!  Sei uns willkommen mit Deiner Lebensfreude und Jugend! Ihr werdet ein gemeinsames Europa aufbauen und ich bin sicher, daß die Nachkommen unserer ostpreußischen Bauern auch nicht nach 2000 Jahren mit Schwert und Feuer wiederkommen werden, um das Land ihrer Väter unter den Pflug zu nehmen.

 

Übrigens, der Mädchenname meiner Mutter ist Grochowski!   

 

 

 

Letzte Änderung:  31.07.2003 20:23:01   -  Copyright Ulrich Perwaß 1991/2002.    Alle Rechte vorbehalten